Martin

 

 

Aufgelöst

 

(Schnell, fast durchgehend schnell vorzulesen)

 

 

Es geschieht oft, irgendwo, zum Beispiel beim Arbeiten: Etwas Ungewohntes ereignet sich. Ein Kollege, der nahezu immer da ist, er fehlt! O weh! Und dann? Meine Nerven, die reagieren, ein Zittern, meine Nerven, ein kleiner Schock, ein feiner Riss, ein Haarriss, der geht mir so durch und durch. Ich merk’s kaum, so schnell geht das, so schnell, wie man einen kurzen Satz liest. Wenn ich denke, was ich fühle, denke ich Sätze, die unpassend sind: Dass er fehlt, ist „ungeheuerlich“, „das gibt es doch nicht, nein“, „das darf jetzt nicht wahr sein“ „Weiß nicht, wie ich damit fertig werden soll, wirklich nicht“. (Und, klar: Dass ich das normalerweise nur fühle, aber eben nicht denke, macht alles so schlimm.)

 

Deshalb: Verstehen, Verstehen wäre gut! Mit der richtigen Sprache fängt es an.

 

Ich bin in Auflösung. Nein: Ich bin aufgelöst. Es ist schon passiert, grad eingerastet ist es. Den Prozess dahin, den habe ich nicht realisiert, alles im Dunkeln. Ich bin also bereits aufgelöst. Noch besser: Ich aufgelöst. Ohne Verb, einfache Sprache, der Sache wegen. So ist es. Also, so: Ich, Welt, Probleme, zu viel, Ich, nicht gut. 

 

Zum Anfang zurück: Etwas Neues, etwas Unerwartetes geschieht. Was kommt dann? Fies, weil ganz heimlich, still und leise übersetzt es sich in meinen Körper hinein, in andere, unruhigere, hektischere Bewegungen, feine Vibrationen. Veränderungen, auf Stunden hin, Bewegungen, und die machen in den kritischen Regionen, den verletzten, den gereizten, da machen die was, machen, hartnäckig und lange: einen Schmerz.

 

 Das ist der Beginn, dies das Ende. Aber nochmal, Herrgott, nochmal! Wie bin ich da bloß hingekommen?

 

Was ist? (Frage ich mich in der Situation, während ich, noch unbeweglich, blöde herumstehe.) Was ist denn? Es ist was zu viel. Zu viel was? Zu viel alles, zu viel irgendwas, egal, zu viel, zu viel. Zu viel Aufregung, weiß nicht, wohin mit mir, weiß nicht mehr weiter. (Das „ich“ lasse ich hier bewusst weg.). Weggehen, woanders hin, allein sein, aufs Klo, jawohl, erstmal aufs Klo. Tür zu, abschließen, weg sein.

 

Und dort: Mein Atem, meiner, wenigstens, also, Atmen, Ein- und Ausatmen. Kontrolle oder Autosuggestion von Kontrolle, egal. Zehn Mal ein und aus. Nichts wird anders, nix, gar nix. Die Verhaltenstherapie, ach ja, genau, da war was! Erinnerung daran, an Entspannungsübungen, an nüchterne Umstrukturierungen, an Benennungen von kognitiven Verzerrungen, an die Formulierung wahrer Sätze. Gelernt, gelernt und angewandt, richtig und wichtig, ja, so wird’s gemacht, mach’s nochmal. Mach schon. Mach ich dann auch. Aber es langt halt nicht: Störrisches Ding, die Seele. Du, Seele, prallt alles an dir ab, bist erstmal so, so aufgelöst. Jetzt das denken: Alles in Gedanken nochmal durchgehen, nacheinander, rekonstruieren, affiges Wort, egal, umdeuten, positiv umdeuten.  Und wieder: Atmen, ein und aus. Alles gleich, alles bleibt gleich. Fatal ist das Ganze, elend bin ich. (Übertrieben, unglaublich, aber  wahr.)

 

Was tun?

 

Akzeptieren und was Anderes tun. Raus aus‘m Klo und an den Schreibtisch zurück. Schreiben, um das Problem dann, vielleicht, vielleicht übersteigen zu können. Langsam, gemach. Ich versuche, mich zu besinnen, zu fassen, schreibend. Schreibend suche ich mich, suche und suche, finde mich kaum, indem ich das Richtige bezeichne, alles diffus. Ich nähere mich möglicherweise durch Einkreisen, schreibe weiter, schreibe, schreibe hoffentlich auf mich zu. Weiß aber schon: Zeit, letztlich brauche ich, braucht es Zeit. Grotesk viel Zeit für ein wenig Entspannung.

 

Aber welche Worte finde ich dafür? Ich weiß es nicht.

 

Also, wieder, neuer Anlauf: Benennen und beschreiben. Stressoren, Aufreger, mehrere, auf die ich unangemessen reagiere, so dass ich den Boden unter den Füßen verliere. Ich bin, ja wo, mit dem Fokus, irgendwo oben, ich bin abgehoben, nach oben verschoben, verrückt, jedenfalls nicht bei mir, nicht im Bauch. Ich komme durch das Schreiben in den Bauch zurück, will mich in mich hineinschreiben, will ruhig werden. Und nun, ja, da ich das schreibe, bin ich schon wieder ruhiger. Durch das Schreiben finde ich Halt, es hält mich, ich halte mich, behalte mich. Weiter geht‘s.

 

Neuansatz, ganz diszipliniert jetzt, jetzt aber: Was genau sind die Attribute zur Beschreibung dieses Zustands, in dem mich, nüchtern psychologisch betrachtet, mehrere Stressoren zu überwältigen scheinen? Das eben ist das Problem, das Phänomen entzieht sich. (Das zu sagen, ist, wenigstens, ein wahrer Satz!) Mir fallen ein: Unbeschreiblich, unsagbar, namenlos. Unangemessen das, selbstverständlich, völlig unverhältnismäßig.

 

Und? Was liegt dahinter, darunter? Das Tabu, das alles unnennbar macht. Die Ahnung, weit hinab in die Kindheit zu müssen. Der kleine Junge, ratlos und doof steht er da, weiß nicht weiter, will dann um sich schlagen, schlägt wirklich um sich, schlägt andere, Schwächere, das geht, das kann er, kann er noch. Aber, das erzeugt: Scham, die Scham, vielleicht das eigentliche Grauen.

 

Jetzt ist das Gefühl, dass es weniger das Problem ist, dass ich es nicht benennen kann, eher, dass ich es nicht benennen darf, mehr noch, dass ich nicht sagen darf, dass ich es nicht benennen darf, dass nur Schweigen bleibt und selbst das zu sagen, gesagt, geschrieben zu haben, das ist zu viel, zu viel; böse. Jedoch, das Schweigen ist fort. Es gilt, galt, wirklich zu schweigen, geschwiegen zu haben. Und, ja: Darüber bin ich hinaus. Zu sagen: „Unnennbar“ trifft es zwar, aber in mir ist eine Stimme, die spricht: Sag nichts, sag gar nichts dazu. Und: Hättest du doch nichts gesagt!

 

Und indem ich das sage, ja, immerhin, indem ich genau das sage, da berühre ich mich, bin mir nah. Gut. Ein Gut. Weiter. Weiter, immer weiter.

 

Schon scheint eine frivole Vision vor mir auf: Indem ich das schreibe oder erzähle, erreiche ich den Punkt ohne Wiederkehr, betrete einen verbotenen Bezirk. Das zu sagen, ist verboten, das zu denken sogar auch. Das Wesentliche ist, dass es unbeschreiblich, unsagbar bleiben soll. So wird, was ich jetzt schreibe oder die Tatsache, dass ich es schreibe, zu etwas Ungeheuerlichem.

 

Spontan aufschreiben, ergänzen, überarbeiten, nochmal ergänzen, strukturieren, ästhetisieren, wieder überarbeiten, lesen, laut lesen, anderen vorlesen. So führe ich meinen Angriff auf das Problem. Dass es verschwindet, glaube ich nicht. Dass aber Ich, wenn ich das tue, nicht länger unter dem Problem verschwindet, das glaube ich wohl. An den Horror in mir, als wäre er der wahrhaftige Teufel: Du! Du magst bleiben. Doch Ich, wisse, Ich ist auch da, bin auch da. Was dann kommt, weiß ich nicht, kann ich nicht wissen.

 

Schreibend komme ich zu mir, nicht weil ich es fasse, oder weil ich, wie von außen, an die dunkle Kugel herankomme. Eine dunkle Kugel, immerhin, ein Bild. Indem ich schreibe, setze ich dem Grauen etwas entgegen, nämlich mich, also Ich.

 

Ein autotherapeutischer Ansatz indes, dem gemäß ich schreiben würde, um das Problem zu lösen, kann das kaum werden. An eine Lösung glaube ich nicht oder kaum oder nur heimlich. Ein wenig Hoffnung, ja. Eher: Dem Problem, das ich akzeptiere, setze ich mein Ich, mein Schreib-Ich entgegen, übe mich in Selbstbehauptung, mache mich stärker. Das, zumindest, das ist drin. – Weiter!

 

 

 

 

Phillis Gaarder:

 

Tantalos - Drei Jahre Magersucht

 

Es gibt nicht den einen Grund, den gibt es selten. Dinge sind selten so einfach.

Also lass mich mit dem Offensichtlichsten anfangen.

 

Schönheit.

Ich wollte schön sein. Meine Freunde waren schön oder sie begannen, es zu werden, die Mädchen auf den Bildschirmen und Shampoo-Flaschen waren schön, Hannah war schön. Viel schöner als ich.

 

Ich wollte einen Raum betreten und Köpfe drehen, Gespräche durch meine bloße Anwesenheit unterbrechen, Verlangen oder Neid in allen Augen sehen. Ich wollte, dass der Spiegel persönlich verkündet, dass ich die Schönste im ganzen Land bin, sodass alle es hören. Ich wollte slow motion, Jazz-Trompeter und beeindruckende Lichteffekte wann immer einer mich ansieht und ich wollte Svea und Hannah neben mir verblassen sehen wie Pornstars neben einem Succubus.

 

Denn langsam, aber dann immer schneller, wurde Schönheit wichtig. Plötzlich war es cool, lustig zu sein, aber was zählte, waren deine Haare, deine Taille, deine Brüste, dein Arsch. Die Jungen begannen zu schauen, zu reden, anzufassen und plötzlich war das wichtig. Sie waren jetzt anders, unterlegen, meinten einige.

 

Als wären wir Mädchen weniger oberflächlich gewesen. Arrogante kleine Rosen, gerade mal am Knospen und so zerbrechlich. Jedes Kompliment war wohltuende Kühlung und half unseren winzigen Egos dabei, sich aufzublasen, jede Gemeinheit stach und andauernd platzten unsere Selbstbilder wie glitzernde Ballons, die nicht fliegen, weil ein kleines Kind sie voller Angst umklammert hält. Als hinge sein Leben davon ab.

 

Aber wir waren dabei, Frauen zu werden. Mit unseren Brüsten wuchs uns Macht und das lernten wir schnell. Die Schönste, die Beliebteste, die Begehrteste wollte jede sein und ich hätte nie gedacht, wie sehr ich es wollen würde. Was bedeuten die Worte eines verpickelten, schwächlichen, langweiligen, präpubertären Kindes mir? Bis jetzt habe ich das zu keinem Zeitpunkt bedacht, aber ich schätze, sie bedeuteten die Welt. Individuen sind etwas Wunderbares und jeder von uns war eines, aber unsere Identitäten waren noch viel formbarer und in Gruppen wurden wir zu Namen, Zahlen von 1-10, Worten, Kränkungen und Schmeicheleien. Man kannte sich nicht, aber man hatte einen Ruf. Ich glaube, man vergisst die Härte und Grausamkeit von Gruppendynamiken leicht und Schulen sind wie Gärten, aber du bist Außenstehender. Du siehst all die schönen Bienchen und Blümchen, wenn du von oben herabblickst, aber du wirst nicht gestochen, du hörst das Summen nicht so laut wie wir und du verstehst es nicht, du siehst nur selten eine Blume welken oder ein Bienchen sterben, aber es ist chaotisch und laut und hart und schmerzhaft. Dein Bienchen erzählt es dir vielleicht nicht, aber es sticht und es wird gestochen und der Schmerz eines Menschen ist nicht kleiner, nur weil der Körper es ist.

 

Schönheit ist aber nicht gesehen werden, sie ist auch sehen und noch viel mehr Vorstellung.

Ich hatte mich nie viel mit Schönheit auseinandergesetzt, nicht mit der Schönheit meines eigenen Körpers, ich kannte schlichtweg wenig, ich hatte kein Ideal, also nahm ich das Bild, was mir gegeben wurde und bei diesem Bild war der Zopf dicker als die Taille.

So malte ich es.

Also begann ich in den Spiegel zu sehen und innerlich abzugleichen. Die Unterschiede waren meine dicken Beine, dicke Arme, dicke Wangen, asymmetrische Gesichtszüge, kleine Brüste, Wurstfinger, Pickel, eine Rundung am Bauch, Makel, Imperfektion und wenn das Mädchen von der Shampoo-Packung schön war, war jede Abweichung Hässlichkeit. 

Dabei fand ich andere Mädchen, echte Mädchen, wunderschön, auch oder gerade wenn sie Sommersprossen, Pickel, kleine Makel, Kurven hatten. Nur ich war hässlich.

Mein Spiegelbild war das “Vorher” eines Instagram Transformations-Post der dir ein Zauber-Pulverchen für den geringen Preis einer Seele anbietet. Ich wollte das “Nachher” werden, ich dachte, ich dürfte meine Seele behalten.

Ich war perfektionistisch und Schönheit war ein Wettbewerb, den ich gewinnen wollte.

 

Die Herausforderung war ein weiterer Grund.

 

Es war reizend, zu sehen, ob ich fähig bin, mich zu ändern. Mir war nicht immer langweilig, aber meinen Willen auf die Probe zu stellen, hat mich gereizt.

 

Papa und Hannah - Beispiele.

 

Mein Vater hat zu der Zeit eine 500 Kalorien-Diät gemacht. Ich habe also gesehen, dass es anderen Menschen möglich ist, dass es menschenmöglich ist und obwohl Hunger für einen erwachsenen Mann anders ist als für ein Kind, das muss ich auch damals schon geahnt haben, sah ich die Möglichkeit und ich sah, dass es ihn nicht umbrachte. Das darf ich ihm niemals erzählen, er würde sich Vorwürfe machen.

Ein weiterer Grund war Hannah. Von Natur aus dünn, blond, großäugig, damals meine beste Freundin, wollte auch die dünnste im ganzen Land sein und sie hatte eine App. Eine App, die deine Nahrung in Zahlen fasste, die das Werten und Vergleichen einfacher machte.

Bei Hannah war Hunger nicht nur unbedenklich, er war gut, er war das Ziel. Ich lernte von ihr.

Hunger wurde eine Leistung, eine Erfüllung. Je leerer ich war, desto erfüllter fühlte ich mich.

Vielleicht fühlte ich auch, dass ich nirgendwo genug bin. Ich sah mich als durchschnittlich, langweilig, nicht ausreichend, minderwertig, nie genug. Aber im Hungern, da war ich die beste.

 

Hungern ist vielleicht schwer, aber nicht kompliziert, weißt du? Du musst nicht üben, nicht viel denken, wenn du dich selbst beherrschen kannst, gewinnst du. Auf eine gewisse Art ist es ein gutes Hobby für sehr faule, talentlose, wertlose Menschen und so sah ich mich ja.

Vielleicht ist es sogar mehr als das. Mehr, als bloß ein Hobby. Es ist eine Art dein Leben zu Leben, du schreibst dir dein eigenes kleines Handbuch mit Regeln für das Leben. Du weißt auf einmal in jeder Situation, wie du dich verhalten musst; wähle immer die Option, mit den niedrigsten Zahlen, den wenigsten Kalorien. Das Leben wird schwerer, aber einfacher.

Wer wünscht sich nicht so eine Kontrolle, so eine Sicherheit?

 

Ich begann also, mein Aussehen zu hassen. Ich mied Schwimmbäder und Übernachtungen bei Freunden, um meine Pickel zu verstecken und ich wollte mich ändern. Mein Aussehen, das war ich. Das war, was andere sahen. Mein Aussehen war meine Identität, nach außen, dachte ich.

Und ich war viel zu gut darin.

 

Zahlen. Zahlen wurden immer wichtiger. Dank der App lernte ich schnell, welches Essen wie viele Kalorien hat, ich steckte mir Ziele, ich zählte, ich verdrehte die Zahlen, um etwas mehr essen zu können.

Es ist nicht schwer, keine Schokolade zu essen, wenn sie für dich eine Zahl ist. Es wäre dumm, Chips zu wählen, wenn du stattdessen drei Äpfel essen könntest. Junkfood wird Gift, denn es lässt dich hungrig zurück, wenn du die Grenze schon erreicht hast.

Ich lernte die Zahlen auswendig, nicht aktiv, aber sie prägten sich ein und ich sah keine Scheibe Brot mehr, ich sah eine Zahl und eine Schätzung, wie lang mein Hunger mir etwas Ruhe lassen würde.

Dann begann ich, die Zahlen zu verdrehen, um etwas weniger essen zu können.

Zahlen lügen nicht, aber man kann sie benutzen, um sich selbst zu belügen. Indem ich nur Zahlen sah, konnte ich die Gefühle ignorieren. Mein Körper schrie, aber ich dachte nicht darüber nach, weil ich eine Zahl vor Augen hatte, ein Ziel. Solange ich das erreichte, brauchte ich mich nicht zu sorgen. Alles war sehr einfach so.

 

Meine Familie bemerkte, dass ich Gewicht verlor. Am Anfang konnte ich sie noch belügen. “Ich habe keinen Hunger.” “Ich habe eben schon gegessen.”

Ich verlor Skrupel, entsorgte heimlich Essen, verschenkte all mein Schulbrot. Nie wollte ich sehen, dass ich meiner Mutter Sorgen bereitete. Ich sagte mir, es wäre alles gut, ich sagte mir, wenn ich jemandem schaden sollte, dann höchstens mir selbst, aber mir ging es ja gut.

Gleichzeitig begann ich meine Mutter nicht als den Menschen, dem ich weh tue zu sehen, sondern als ein Hindernis, das zwischen mir und meinem Ziel steht. Es tat mir dann nicht mehr so leid, sie zu belügen und belügen musste ich sie ja, um mein Ziel zu erreichen, aber mein Ziel begann, sich ständig zu ändern.

Ich wurde die Lügenbaronin. Meiner Mutter erzählte ich “Ich esse bei meinen Freunden”, meinen Freunden sagte ich, ich hätte bereits zuhause gegessen. Hunger war mein Dauerzustand, aber der Satz “ich bin nicht hungrig” ging mir mehrfach am Tag leicht über die Lippen. Ich log und manipulierte viel, aber mich selbst belog ich am besten.

Ich aß vielleicht wenig, gar ein kleines bisschen zu wenig, eventuell bewegte ich mich auch sehr viel. Mein Verhalten war etwas ungewöhnlich, aber ich war ja nicht krank.

Warum las ich dann Bücher über Magersucht, schaute Filme mit magersüchtigen Hauptdarstellern und weinte über sie?

Weil ich mich selbst darin sah. Weil ich so über mich selbst weinen konnte, ohne es mir einzugestehen.

 

Hunger ist nicht nur unangenehm. Am Anfang, ja. Am Anfang hast du Appetit und manchmal kannst du an nichts denken, außer an Essen. Dann gibst du auf und lässt los und dann frisst du wie ein Schwein, solang du dich selbst nicht zurückhältst. Du musst die Gelegenheit nutzen.

Aber dann lernst du aus dem Selbsthass und du erfindest Bewältigungsmechanismen für diesen Urinstinkt.

Ich backte gern. Ich nahm all die Dinge, die ich nicht essen konnte. Ich pflückte den Apfel, aber ich war schlauer als Eva. Ich nahm ihn in die Hand, fühlte ihn, roch ihn, richtete ihn wunderschön an und dann gab ich ihn anderen zu essen. Ich bin mir nicht sicher, warum ich das so geliebt habe, aber ich denke, es war krank.

Vielleicht war backen so gut, weil ich dabei nur an Essen denken konnte. Ich konnte mir vorstellen, wie es schmeckt. Vielleicht habe ich Cupcakes gemacht, weil ich sie so sehr wollte. Weil mein Körper nichts mehr, als diese Bälle aus Mehl und Zucker mit Fett und Zucker darauf brauchte.

Und wenn andere mein Essen gegessen haben, dann haben sie etwas getan, was für mich fast unmöglich war. Das war faszinierend. So, wie es für einen anderen faszinierend ist, wenn jemand im Kopf komplizierte Gleichungen löst, jongliert oder sich, ohne mit der Wimper zu zucken, den Daumen abhackt. Und es machte sie glücklich und wenn ich dabei war, konnte ich so doch irgendwie daran teilhaben. Ich wollte, dass es anderen Menschen gut geht, dass sie nicht hungern. Ich machte mir Sorgen um andere, auch um ihre Essgewohnheiten, nur nicht um mich selbst.

Ich hoffe, dass das der Beweggrund war.

Es gibt eine zweite Möglichkeit. Wenn andere die Früchte aßen, die ich mir verbat, dann erhöhte mich das in dem Moment. Sie hatten dann in meinen Augen keine Ambitionen, keine Selbstbeherrschung, sie verloren das Spiel und ich gewann es. Vielleicht war ich nicht gut, nicht genug, aber ich war wenigstens besser. Das sind offensichtlich kranke Gedanken, blind, einsam, mit verdrehten Werten, eingeschränkt auf eine einzige, verdrehte Perspektive. Sie hatten schlicht nicht meine Ambitionen.

 

Aber, wie gesagt, das Hungern war nicht nur unangenehm. Ich glaube, der Körper verfällt nach einer bestimmten Periode des Hungerns in einen anderen Modus. Du hast Energie, du fühlst dich leicht, stark, schnell, wach. Bis du schwach und müde und verletzlich wirst. Der Hunger wird ein wichtiger Teil von dir, aber du wirst kein Zombie. Du funktionierst noch gut, kannst denken, reden, lachen, schauspielern. Vielleicht gewinnst du sogar auf eine gewisse Art Kraft.

Ich nutzte das, um Sport zu machen. Sport an sich war schrecklich, eine schwere Probe meiner Körper- und Geisteskraft aber er hatte wundervolle Nebenwirkungen.

Offensichtlich ist, dass Sport Kalorien verbrennt. Am Anfang errechnete ich die verbrannten Kalorien und erlaubte mir, sie durch Essen wieder aufzunehmen. Das war wundervoll, wirklich, aber es war nicht die größte Motivation.

Auch nicht schwer zu erraten ist der Gedanke, dass Sport schön macht. Megan Fox war nicht einfach nur dünn, sie war durchtrainiert. Das Ideal schwitzt sieben Mal die Woche bis es kollabiert und belohnt sich dann mit einem Spinat-Smoothie.

Ich hörte irgendwann auf, mich zu belohnen. Es ging jetzt darum, mehr zu verbrennen, als ich aß.

Die größte Belohnung aber blieb. Sie war die gleiche, wie beim Hungern. Es war wie bei einem Videospiel, das konzipiert ist, dich süchtig zu machen. Ein wunderbares Gefühl von Erfolg, wenn ich mein Ziel erreichte. Wenn ich es geschafft hatte, fühlte ich mich gut. Ich war gut, für einen Moment. Es war gut. Ich konnte stolz auf mich sein und es war viel besser, als bei Rainbow Six Siege ein Match zu gewinnen, denn sowohl die Anstrengung, als auch der Effekt waren größer. Ich musste leiden, um Kalorien zu verbrennen. Ich musste brennen.

Das machte süchtig.

Das Hungern und der Sport machten süchtig.

Es war eine Sucht.

 

Ich begann, erste Effekte zu bemerken. Ich verlor an Gewicht, das machte mich unglaublich stolz.

Dabei fand ich Kurven schön. Sogar einige dicke Mädchen fand ich wunderschön. Nur ich selbst wollte dünn sein.

Aber es veränderte sich mehr. Ich begann, zuzuhören, wenn andere über Aussehen redeten und es bedeutete mir die Welt. Ich begann, meine sozialen Gewohnheiten zu ändern, um so wenig wie möglich zu essen, ohne Aufmerksamkeit oder Sorge zu erregen. Ich vermied Übernachtungen, ging zu Essenszeiten zu Freunden um da zu behaupten, ich hätte schon gegessen aber ich erregte trotzdem Aufmerksamkeit, vielleicht sogar echte Sorge.

Aber wenn jemand mir sagte “Lioba, du bist ja so schlank geworden!”, dann “Lioba, du bist ja so dünn.” irgendwann, von einem Jungen aus meiner Klasse “Ne, für mich ist sie zu dünn.”, dann besorgte mich das nicht, verletzte mich nicht, es bestätigte mich. Ich erreichte meine Ziele und es war für andere sichtbar. Bald würde ich so schlank sein, wie meine dünnsten Freundinnen und als ich es war, hörte ich nicht auf.

Ich begann, meinen Freunden und meiner Familie Sorgen zu bereiten, aber ich wollte das nicht sehen, also sah ich darin Neid. Ich verhielt mich fröhlich, freundlich, ausgeglichen und mein soziales Leben ging weiter, etwas eingeschränkt, aber für die Schule allemal genug. Normal, denke ich. Und das war wichtig, genug zu sein.

 Kennst du das, wenn du dich müde und kraftlos fühlst, schnell anfängst, zu weinen und reizbar bist? Das liegt oft an Müdigkeit oder Hunger, nicht wahr?

 ´´Wenn das aber zum Dauerzustand wird, lernst du, dich zu kontrollieren. Ich ließ mich nichts mehr anmerken, wenn ich müde, kraftlos, verletzt war und ich war viel leichter zu verletzen, wie ein müdes, hungriges Kind, das ich war. Aber ich hielt durch und dann, manchmal, abends, wenn keiner mehr etwas von mir wollte, keiner mich sehen konnte, malte ich Mädchen, die schöner waren als ich, schrieb auf, wie schlecht es mir ging, weinte. Ich begann, meiner Mutter Tabak zu stehlen und ihn zu rauchen. Ich wollte fern von den Blicken anderer sein, keine Erwartungen, kein Lärm, nur allein sein und Ruhe. Und wenn ich spazieren ging, um zu rauchen, konnte mich keiner finden und ich war sicher. Durch Nikotin wurde ich ruhiger. 

Irgendwann war ich dann meistens taub.

Einmal versuchte ich, mich zu ritzen, aber es ist nichts für mich. Es half nicht.

Ich wurde ein sehr trauriges Kind.

 

Noch etwas neues war die Kälte. Mir war meistens kalt. Ich trank literweise Tee, um mich für eine Minute voll zu fühlen, aber auch, um mich von innen aufzuwärmen. Ich trug lockere, warme Pullover, aber ich fror trotzdem meistens.

 

Es wurde schlimmer.

Manchmal sah ich in den Spiegel, nackt, ich sah meine Rippen, Formen meines Brustbeins, meine Schlüsselbeine, meinen schlanken Bauch, ich war dünn und ich fand mich schlank. Dann war ich stolz, dann war ich schön.

Ich begann, mich für Mode zu interessieren und ich merkte, dass manche Kleidung mich schön machte. Ich zog ein langes Kleid (Größe XS) an, sah meine schlanke Taille, meine geschrumpften, aber noch hübschen Brüste, meinen schlanken Hals, meine zierlichen Arme, meine langen Beine und ich war glücklich.

Aber dann, so viel öfter, sah ich Fotos, die ich nicht selbst gemacht hatte und auf denen ich keine Zeit hatte, Grimassen zu schneiden und mich zu verrenken oder zu verstecken oder ich sah mein Spiegelbild und es war, als würden meine Augen nicht richtig funktionieren. Als würde ich mich in einem Zerrspiegel sehen. Natürlich sah ich das gleiche Mädchen, das alle anderen sahen, aber ich hasste sie. Sie war dünner als die anderen, aber sie war Fett, hässlich, wertlos, abstoßend. Sie war nicht genug.

Manchmal zwang meine Mutter mich, zu essen und ein wenig, für einen Moment, war ich ihr dann dankbar, aber viel mehr hasste ich es. Ich wusste, sie wollte mir helfen, aber es bedeutete bloß, dass ich zu einem anderen Zeitpunkt mehr würde hungern müssen, um mein Ziel zu erreichen.

Dann fand ich eine andere Lösung. Ich versuchte, mich zu übergeben. Ich steckte mir den Finger in den Mund und ich würgte. Ich versuchte es weiter und weiter, aber es funktionierte einfach nicht. Ich spürte den Würgereiz, aber die Erleichterung kam nicht. Wahrscheinlich war das gut so.

Ich begann, von einem Tag zum nächsten zu leben, wie man sich vielleicht beim Joggen ein Ziel und dann ein neues und dann noch eins steckt, um die unendlich lange, anstrengende, schmerzhafte Strecke nicht sehen zu müssen. Ich liebte mein Leben nicht mehr, die Momente waren selten gut, ich lebte auf den nächsten Tag hin, weil da mein nächstes Essen auf mich wartete und wenn ich abends einschlief, war ich hungrig, aber glücklich, endlich eine Pause machen zu dürfen.

Einmal fragte meine Mutter mich, wann ich aufhören würde, wann es genug wäre. Ich konnte ihr nicht antworten und ich wusste nicht genau, warum ich anfing zu weinen. Das hatte ich vorher nie bemerkt. Ich machte mittlerweile siebenmal die Woche Sport und aß an “guten” Tagen nicht mehr, als ein halbes Brötchen. Es würde nie genug sein. Es gab kein "genug". Ich hatte mein Ziel schon lange erreicht, ein Doktor hatte mir bestätigt, dass meine Blutwerte besorgniserregend sind, meine Eltern hatten mich zu einer Psychologin geschickt, die ich belog; ich hatte eine unglaubliche Selbstdisziplin bewiesen. Ich war die dünnste im ganzen Land. (Google will “dünnste” zu “dümmste” korrigieren, ha). Dabei war das gar nicht, was ich wollte. Ich sah nicht aus, wie das Ideal in meinem Kopf, ich sah krank aus. Ich war ja nicht dumm, irgendwo wusste ich, dass ich krank war, ich wollte es ignorieren. Ich wollte meiner Familie keine Sorgen machen, ich wollte nie etwas falsches tun, aber jetzt machte ich alles falsch und ich machte es so schwer für sie. Sie verstanden mich nicht, ich verletzte sie, verlor sie. Aber ich war süchtig. Ich hatte Angst, aber ich konnte nicht aufhören. Ich war gefangen, ich sah keinen Ausweg, keinen, den ich mutig oder verzweifelt genug war zu gehen. Der Hunger war wichtig für mich geworden. Ich hatte so viel gelitten, fast all mein Selbstwertgefühl basierte jetzt darauf, wie einfach es für mich war, um mein Handgelenk zu fassen. Zahlen, Regeln und Selbstdisziplin bestimmten mein Leben, meine Persönlichkeit. Und sie waren fast das einzige, was mich stolz und glücklich machte. Es ist so schwer, etwas loszulassen, wenn du glaubst, da bist du sicher, das bist du.

 

Aber ich hatte realisiert, dass ich mich selbst zerstörte. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht war es, dass meine Eltern mich zu einem Arzt und zu einer Psychologin schickten, vielleicht waren es die besorgten Kommentare meiner Freunde und Familie, vielleicht das Ausbleiben meiner Periode, vielleicht war es meine ständige Müdigkeit, Trauer, das Frieren, die Erschöpfung.

Ich realisierte einfach, dass ich meistens unglücklich war und dass es einmal besser gewesen ist. Ich lernte nicht, was die Instagram Posts predigen. Ich liebte meinen Körper nicht, kein bisschen. Aber ich akzeptierte, dass ich nie schön sein würde. Ich nahm an, dass es nie genug sein würde. Ich gab auf.

Es war nicht leicht. Ich begann, indem ich aufhörte zu zählen. Ich mied ein Jahr lang jede Waage wie eine Bärenfalle. Manchmal, wenn ich mein Spiegelbild oder Fotos von mir sah oder wenn meine Mutter sich freute, dass ich zunahm, dann wollte ich am liebsten nichts mehr essen, bis ich friere und nur noch schlafen will. Ein oder zweimal versuchte ich es dann auch. Aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass mich das auch nicht glücklich machen würde. Ich lernte, mir zu erlauben, zu essen. Und dann, nach und nach, vergaß ich die Zahlen und lernte, zu leben. Vier Jahre später weiß ich immer noch, dass ein Apfel ca. 50 Kalorien hat und eine Scheibe Pizza zu essen ist, wie einen Löffel Öl zu schlucken. Ich hasse Pizza, Eis und Vorträge, weil mein Kreislauf während eines Vortrags zusammengebrochen ist und ich habe ein Jahr jeden Sport vermieden, weil ich meinte, nicht die Kraft zu haben. Weil Sport für mich nur ein verzweifelter Versuch war, meinen Selbsthass zu schmälern und weil ich Angst hatte, in meine Alten Denkmuster zu verfallen. Vor einer Woche bin ich Joggen gegangen, als ich müde war und ich kannte dieses Gefühl so gut, ich konnte nur schwer Tränen unterdrücken, aber ich konnte nicht aufhören, das konnte ich mir nicht erlauben und da war die Sucht wieder. Das war das erste Mal, dass ich aktiv zurückgedacht habe und ernsthaft nach einer Erklärung gesucht habe. Und ich wusste das hier die ganze Zeit, glaube ich, doch in diesem Moment entschied ich, es aufzuschreiben. Um mich selbst besser zu verstehen. Um mir einzugestehen, was ich verdrängt habe.

 

Es geht mir jetzt viel besser. Jetzt gerade habe ich Hunger, ich bin wieder dabei, etwas Gewicht zu verlieren, aber ich verbiete mir, zu zählen. Ich muss lernen, diese Freiheit als Stärke, nicht als Kontrollverlust, nicht als Schwäche zu sehen. Ich habe wieder angefangen, mich zu wiegen und meine Mutter hat Angst, dass ich wieder Hungere. Ich muss zugeben, ich auch, ein wenig, denn diese Sucht klopft nicht an deine Stirn und schreit “Moin, du bist magersüchtig!”, sie kommt langsam und du willst nicht sehen, wie krank du bist, während du langsam an einem gedeckten Tisch verhungerst wie Tantalos, nur dass du dein eigener, hasserfüllter Gott bist. Aber ich stecke mir keine Ziele, wenn ich auf der Waage stehe.

Ich glaube nicht, dass ich wieder süchtig bin. Mein Körpertyp ist nicht dick, aber kurvig und manchmal liebe ich die Kurven. Ich bin bei weitem nicht die schönste im Land, aber oft finde ich mich nicht hässlich. Ich habe ein etwas gestörtes Verhältnis zu meinem Körper, aber es ist nicht mehr ungewöhnlich gestört. Ich bin ein viel glücklicherer Mensch, weil ich gelernt oder wieder erlernt habe, Glück aus anderen Dingen zu schöpfen, auch aus mir selbst. Manchmal finde ich mich hässlich, talentlos, minderwertig, ungenügend, langweilig, hoffnungslos, faul und verloren, aber in anderen Momenten sehe ich im Spiegel auch jemanden, den ich mag. Ich habe Freunde, die ich wirklich gern mag, ich liebe andere und ich lerne, mich zu öffnen, zu vertrauen, ich habe Hobbys, Ziele, Dinge, die ich liebe, ich kann die Welt ansehen und sie lieben. Ich kann das Leben genießen, ohne mein Regelbuch. Ich brauche nicht zu hungern, um Glück und Bestätigung zu fühlen. Es geht mir besser.

 

 

 

Arthur Widitz

 

DER STILLE TOD

(Kernenergie)

 

Wenn der Tag beginnt

Seht ihr das Morgenrot

Doch was ihr nicht seht

Bin ich, der stille Tod                                    

 

Ich bringe euch die Not

Ihr merkt es nur noch nicht

Ich lache, lache, lache

Euch strahlend ins Gesicht

 

Die Todes-Energie

Die schlimmste aller Zeit

Wird immer mehr vernichten

So oft ihr sie oft befreit

 

Den Abfall den ich mache    

Den müsst ihr nur verwahren

Was kümmert euch die Menschheit

In hunderten von Jahren?                                                    

 

So lebt den Irrsinn weiter

Ganz in meinem Sinn

Das stimmt mich wirklich heiter

Wer stirbt ist mein Gewinn

 

 

 

ALLEINE ZU SCHWACH

 

 

Gelassen liegen sie am Schiff

Ich schwimme nur mit Muskelkraft

Sie blicken lachend über Bord

Denn ihr Tempo raubt mir Kraft

 

Ich kann nicht mehr

Doch seh´ ich noch

Ihr Schiff ist leck

Im Bug ein Loch

 

Ich schrei´ laut

Will Warnung winken

Sie lachen nur

Obwohl sie sinken

 

Vom Bordcomputer kein Signal

Der Käpt´n schlief an Deck

Schiff und Menschen in dem Sog

Wie sollt´ ich helfen so weit weg

 

Leis´ klingt mir noch ihr Lachen nach

Während die See sich glättet

Alleine war ich viel zu schwach

So hab´ ich nichts gerettet

 

 

ZUR LAGE

 

Der „alte Duft“ liegt in der Luft

Die Herde nach dem „Hirten“ ruft

Vergangenes will aufersteh´n

Von so vielen ungeseh´n

Jubeln laut mit vollem Klang

Ahnen nicht den Untergang

Die Geschichte ist vergessen

Von Blendung, Hass und Angst zerfressen

Sind die Augen schon fast blind

Es naht der Sturm, nicht bloß ein Wind

 

 

 

Grobfried Bropst

 

 

Brief an Bekannte

 

ich teile mein Brot ein

denn der Staat ist

mehrheitlich gewollt

an meinem Überleben nicht interessiert

nur ein Formular brauchte ich von ihnen

damit ich in der Stadt nicht so friere

und mir der Speichel nicht läuft

vor den Bäckereien

 

die mir schreiben wollten

haben mich nicht vergessen

wenn ich sie besuche

 

auf den Straßen liegen noch

genug frisch angerauchte Kippen

und mein neues Zimmer hat sogar eine Heizung

da darf ich bleiben

zwecks Miete

meine verschleppte Grippe ist besser geworden

meint der Arzt

nur Draußen schmerzt es mich noch manchmal

wenn ich die Ereignisse dort erlebe

aber es scheint besser geworden

seit ich ohne Geld

fast immer nur dasselbe erlebe

ich fühle mich sehr einsam und habe Ängste

gerade Nachts

mich auf all dies einzustellen

lerne ich hier

 

ich hoffe Dir geht es gut

sonst geht es mir gut, danke

 

 

 

Danksagung

 

denen,die mich ertragen haben

so gut sie es vermochten

die mir viel Gutes gaben

im Stillen mit mir hofften

 

die Knappes mit mir teilten

ohne Verdienst zu heischen

im Gespräch bei mir weilten -

kein Ego und kein Kreischen

 

die trotz Leid vorangingen

über Gegenwart sinnend

in Worten uns zu bringen

ein Raunen vom Sinn

 

 

echowurzeln

 

sage mir wann

und kein vielleicht

 

ist es einerlei

ob morgen eine birke gebiert

einen apfel im mai

 

wenn der fluss des schalls

wieder zerhackt wird

in kleine punkte auf papier

 

eine ameise

die ausversehen spazieren geht

ist subkultur

 

und wenn wir einen klang finden

der die summe ihrer töne ins unendliche streift

werden sie diesem ein neues zeichen setzen

 

 

 

Gedanken im Abendland

 

Kopf

auch meine Kopfgedanken

Ich-Gedanken-Kopf

Wie köpf ` ich meine Gedanken im Kopf ?

 

Ich als Gedankenkopf

 

fragt der Magen

und wird flau

- mein Magen kennt die Dinge

 

das Herz pumpt

wie dem Magen zur Bestätigung

 

Ich-Magen-Wahrheit

Haar-Gefühl

bin mit Fuß und Hand

nicht kopflos

- vielen Dank, trotz Abendland

 

 

 

vorgeeintes

 

in worten das nichtwort

schlaflos im traum

in regeln erbauende

gefangenheit nicht als auffassendes

sucht auchich einfassenden schutzkasten

vor erweichendem ichauch

 

bezugswolken in wortesenge tanken

ein spielleiden nur

bis schutzengehaft verfliegt im winkelzerfall

im sinnesbad nichtzwang

da stillt einzelruhemedizin sehnsucht tödlich

(von hier gesehen)

 

liebliches spielende sein

wenn dürrezeitgrenzen verenden

ungetankte haftwolken warten

(so träumt es in mir)

mein auchich hofft vorgeeint

der zerfalleinigung zum normweltende

 

 

 

Maik Seiler

 

Am Türsteher vorbei?!?

 

Das laute Tock-Tock ihrer Tippelschritte,

als ob einen zweibeinigen Gaul sie ritte,

hört man von fern und noch lauter von nah.

Und man weiß, die Königin der Nacht ist da.

 

Fast jedes männliche Auge verweilt,

auf einen Körper, von Kopf bis Fuß durchgestylt.

Nichts dem Zufall überlassen.

Und für die meisten: Bloß nicht anfassen.

 

Kein Häarchen gegen diese Frisur rebelliert.

Es würde auch gnadenlos massakriert.

Das Make-Up bedeckt so Schicht für Schicht

etwas, das aussah wie ein menschliches Gesicht.

 

Und wenn die Wimperntusche perfekt zum Lippenstift passt,

und das Outfit den Körper grandios umfasst,

dann braucht sie kein Spiegelein mehr an der Wand.

Alle Zweifel werden die Universium verbannt.

 

Keinen Kerl, den sie nicht mit ihrer Hüfte,

zu Phantasien anregte und verblüffte.

Mit einem Lächeln, strahlend und dennoch scheu,

kommt sie problemlos an Türsteher vorbei.

 

Sein After-Shave kündigt von Weitem schon an,

hier kommt ein Kunstwerk von einem Mann.

Ein wilder Blick und ein starker Wille,

lauern hinter der pechschwarzen Sonnenbrille.

 

Kein Lifting, aber knackiges Sonnenbank-Braun,

magnetisiert die Blicke fast aller Fraun.

Mit Schwung in den Schritten und Siegergrinsen,

geht die Moral der Rivalen glatt in die Binsen.

 

Auf der glattrasierten Brust sieht man im Nu,

ein Meisterwerk von Tattoo.

Mit Totenschädel und Vogelspinnen,

tut's einem das Blut in den Adern gerinnen.

 

Und beim Türsteher, den er mit Vornamen kennt,

hat er ein Eintritts-Abonement.

Nach Begrüßung und Smalltalk geht eins, zwei, drei

Mr. Exclusiv am Türsteher vorbei.

 

Dann komme ich und alle werden blaß.

Na, der Typ da, der traut sich was.

Der ist ja alles andere als perfectus.

Sieht aus wie ein Homo Sapiens Erectus.

 

Mit einer Haut, die blassrosa den Körper umfließt.

Und auf der hie und da mal ein Pickel grüßt.

Ein Gürtel, der ein Klagelied tut singen,

beim Versuch die Taille zu umringen.

 

Auch die Schuhe tun beide lautlos fluchen.

Deren Profil man mit der Lupe muss suchen.

Ungestylt und ungeliftet,

wie aus grauer Vorzeit angedriftet.

 

Ich gehöre nicht dazu aber ich gönn' mit den Spaß.

Entfache den Sturm im Wasserglas.

An keinem Türsteher der Welt komm' ich so vorbei.

Drum blieb ich draußen, bleib wie ich bin, fühlt mich frei.

 

 

 

Anecken

 

Du und ich, wir sind ein Menschenschlag auf Erden,

die mal bewundert, mal verachtet werden.

Zwar wurden wir als echte Menschen geformt.

Doch irgendwie sind wir nicht DIN-geformt.

 

Der gerade Weg war uns einfach nicht angedacht.

Das ist, was uns für viele gar so rätselhaft macht.

Und wir springen nun aus allen Ecken.

Nicht verstecken, anecken.

 

Vielfalt ist doch Reichtum, lass dir nichts erzählen.

Stromlinienförmig immer nur die gleiche Richtung wählen?

Was andre können fällt dir oft genug so schwer,

Doch in andren Disziplinen kannst du umso mehr.

 

Und heute startet auf der entschlossenen Spur,

unser Angriff auf die Mainstream-Monokultur.

Und wir werden nie mehr Speichel lecken.

Nicht verstecken, anecken.

 

Und mit unseren Dickschädeln, da knallen wir

Mit Karacho gegen jede verschlossene Tür.

Und auf der nach oben offenen Richterskala

Pendeln immer weiter aus die Tintenstrahler.

 

Ja, wir bringen die Normalos ziemlich oft zum Lachen

Wenn wir unfreiwillig wieder mal den Pausenclown machen.

Doch oft ist es nur öde hinter deren Schleier

Jenseits vom Tellerrand leben wir doch ungemein viel freier.

 

Und wieder blickt ein wachsames Gesicht hinterm Fenster.

Als wären wir entlaufende Schlossgespenster.

Bei uns gibt's viel mehr zu entdecken.

Nicht verstecken, anecken.

 

Sie sagen unsere Hirnkästchen wär'n butterweich.

Das ist uns gleich, wir wissen, hier sind wir doppelt reich.

Wir sind vielleicht nicht immer so rationell,

doch den menschlichen Charakter checken wir recht schnell.

 

Drum Kopf hoch, Kumpel, streck die Nase in den Wind.

Schau, wie weit wir schon gekommen sind.

Und wir lassen uns nie mehr verdrecken.

Nicht verstecken, anecken.

 

Und mit unseren Dickschädeln ...

 

Mit Zweifeln nicht mehr zuzudecken,

in großen und in kleinen Ecken,

hinter Büschen, hinter Hecken,

nicht verstecken

ANECKEN!!!

 

Kreatives Schreiben & Literatur

von besonderen Menschen

und Menschen in besonderen Lebenslagen