Gisela Wullenkord, 78 Jahre

 

Ich bin in Halle/Westfalen geboren. Meine Eltern sind, als ich drei oder vier Jahre alt war, nach Bielefeld gezogen. Ich habe immer in der Stadt gewohnt, mittendrin in der Diesterwegstraße. Während des Krieges war keine Schule, da hatten wir Privatunterricht, saßen im Wohnzimmer einer Lehrerin rund um den Wohnzimmertisch. Während des Krieges mussten wir abends um zehn oder acht zuhause sein, man durfte ja nicht raus. Wir und unsere Großmutter mit ihrer Tochter, standen, wenn Alarm war vor der Tür, Sparbücher in der Hand. Wir sahen dann die Tannenbäume, wenn sie Bomben über Bielefeld abwarfen. Da war die Bahnlinie von Halle nach Bielefeld, das war immer ein gefährliches Stück.

Meine Mutter war alleine mit mir. Wir haben bei einer Tante dann irgendwo gewohnt in Bielefeld. Evakuiert nach Halle während des Krieges, danach war ich wieder in Bielefeld. Meine Mutter hatte ihre Wohnung immer behalten hier. Wir mussten, wenn Alarm war, einen Ausweis haben, um in den Bunker zu kommen.

Mit 11 Jahren bin ich zur Realschule gegangen. Das war die schlechte Zeit,, wo es wenig zu essen gab. Die Lebertranzeit. Man kriegte jeden Tag einen Löffel Lebertran im Krankenhaus. Ich hatte Scharlach. Meine Mutter konnte nur durchs Fenster kucken. Ich bin dann etwas später zur Schule gegangen. Zur Realschule, eine reine Mädchenschule. Man kann sich das gar nicht vorstellen. Die Schule ist an der Paulusstraße. Alles ange-

baut. Die Schule war ja auch nicht mehr da. Da war nur der Kückenstall. Da waren wir zehn, elf, die jüngsten Schüler und dann waren wir im Kückenstall.

 

 

Meine Texte:

 

Wie ich gelernt habe, einen Apfel zu essen

 

Manche nagen den ja nur von außen ab den Apfel und lassen das Kerngehäuse übrig. Ich war während des Alarms im Bunker. Im Krankenhausbunker bin ich gewesen. Ich stand zwischen den Krankenhausbetten, war alles sehr eng. Der Krankenhausbunker ist an der Oelmühlenstraße. Ich glaube da machen sie Bestrahlungen drin heute. Also ich stand da und ich hatte einen Apfel, von dem wenig übrig blieb. Und ich wusste nicht, wohin mit den Resten. Da fragte ich eine Nachbarin, die neben mir stand: "Wo soll ich denn den Rest hinwerfen?" Sie meinte: "Das kannst Du alles aufessen. Nur der Stil, der darf auf dem Boden landen:" Und seitdem esse ich das so und mir schmeckt das auch.

 

 

 

Als ich die erste Rolltreppe sah

 

Da war ich 20 und beim Schüleraustausch in England. Ich stand oben, der Zug war da. Es wurde gerufen: "Schnell, schnell, der Zug ist da!" Und ich fragte: "Wie soll ich denn da runterkommen?" Das war ein ungeheures Ding für mich. Dann sind meine Bekannten rauf und holten mich ab. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, nicht?

 

 

 

Wie ich meinen Mann kennengelernt habe

 

Meinen Mann hab ich in der Tanzschule kennengelernt. Auf der einen Seite saßen die Frauen und auf der anderen die Herren. Man wurde aufgefordert und danach wurde man gefragt, ob man nach Hause gebracht werden möchte. Auto hatte ja keiner. Und wie wir dann draußen waren, sagte der Herr: "Mein Freund geht auch mit." Und das ist dann mein Mann geworden der Freund. Aber Tanzen hat mein Mann nicht gelernt.

Dieses Jahr im Januar ist mein Mann gestorben. Wir waren 50 Jahre verheiratet. Wenn man überlegt wie alt ich bin ...

Nach meinem Mann fehlt mir das Auto am meisten.

 

 

 

Meine Arbeit

 

Zu meiner Zeit kriegte man auch keine Lehrstelle. Da musste man drum kämpfen. Es wurden Kurse angeboten für Steno und Schreibmaschine. Da gab es Wettkämpfe und man bekam, wenn man gewonnen hat, 'ne Urkunde. Die konnte man einreichen bei der Bewerbung um eine Lehrstelle. Und wenn sie dann 'ne Lehrstelle hatten, dann waren sie nur noch Lehrling! Es wurden jedes Jahr drei Lehrlinge eingestellt und die wurden dann ausgenutzt. Zu der Zeit wurde zum Beispiel am Bahnhof das Leinemeisterhaus gebaut das große. Was heute auch nicht schön ist. Und wir saßen alle zusammen in einem ausgebombten Großraumbüro. Der Chef oben, am Anfang und ganz hinten die Lehrlinge. Der Chef, Verkauf, Einkauf. Buchhaltung war extra für sich. Der Lehrling musste auch mit Krawatte ins Büro. Wir waren dann jedes mal drei Lehrlinge. Angelernte waren gar nicht viele da praktisch.

Wir haben dort noch den Keller aufgeräumt. Wir durften uns dann von den Musterbüchern eins aussuchen und das behalten. Ich hab eine Mundtuchtasche. Die ist in Handarbeit gefertigt, das nennt man Rennelarbeit. Das machten Heimarbeiterinnen. Damals wurden die Königshäuser und Hotels damit beliefert. Und die Firma stellte hochwertige Bett- und Tischwäsche her. Strunkmann & Meister. Die haben in der Obernstraße heute noch ein Ladengeschäft. Die gibt es noch die Firma, ja. Weil ich im Einkauf war, konnte ich 2. Wahl Sachen bekommen. Ich habe aus meiner Lehrzeit noch Sachen. Habe erst jetzt noch Meterware gefunden. Die näht mir jemand ab, 50 x 60 habe ich gesagt.

 

Mit 40 bin ich wieder angefangen zu arbeiten. Dann hat man die Kinder ja so weit, dass man wieder rausgehen kann. Ich hab in einer Firma gearbeitet, die kam aus Berlin. Denen war dort der Grund zu teuer und sie haben sich in Bielefeld Räume gesucht. Ich bin wieder in den Beruf reingerutscht. Ich bin Buchhalterin von Beruf. Habe immer zuhause gearbeitet, für Steuerberater. So brauchte ich meine Kinder nicht allein zu lassen.

Ich war bei einer Firma Lutz Teutloff, die machten hochwertige Damenoberbekleidung. Die Firma gibt es leider nicht mehr. Die Sachen von denen habe ich jetzt noch. Wenn meine polnische Haushaltshilfe sie anzieht, sieht sie richtig schick aus. Sie könnte damit ins Theater gehen und die Leute würden ihr nachschauen. Die Firma fertigte die Mode bis zur Auslieferung. Frühere Mitarbeiter treffen sich jetzt einmal im Jahr. Ich weiß ja die Namen nicht mehr. Man sah es gerne, wenn wir die Sachen von ihnen auch anzogen, wenn wir elegant ins Büro gingen. Dann sprach einem die Chefin drauf an.

Ich wollte erzählen, wie die EDV-Sache anfing. Die kriegten die Aufträge in Düsseldorf von der Messe. Die Aufträge wurden in den Zug gestellt, dann stand jemand von der Firma am Bahnhof. Sooo ein Packen Aufträge war das! Sie stellten mir eine Taxe vor die Tür und holten mich ab. Sie haben mich zur Herforder Straße gebracht und ich habe die Zahlen auf Additionsrollen getippt, also nur die Zahlen übernommen. Wie ein Kassenbon. Wie es das noch nicht gab, musste man es alles mit Strichlisten machen.

Und dann hab ich lange Zeit nichts mehr gehört von der Firma. Bis sie mich eines Tages anriefen und fragten, ob ich kommen kann. Und dann hab ich mich langsam vorgearbeitet, bis dahin, wo ich hingehörte, zur Buchhaltung.

 

 

 

Ich und die Musik

 

Mir ist ein Muskel abgerissen, mein Kinn hängt auf der Brust. Und ich hatte eine Stimmbanddurchtrennung. Habe mit einer Logopädin wieder sprechen gelernt.

Eines Tages holte ich eine Mundharmonika aus der Schublade und bin zur Musikschule Kannengießer in Brackwede. "Wie wollen Sie denn mit einem Stimmband spielen?" fragte der mich und wollte mich nicht unterrichten. Die nächste Woche bin ich wieder hin. Seine Nichte machte es dann. Habe gelernt, Mundharmonika nach Noten zu spielen. Eines Tages sagte mir jemand, das höre sich grauenhaft schlimm an, das würde ich nie lernen. Aber später sagte ein anderer älterer Herr, hörte es sich besser an.

Bin dann umgestiegen auf Akkordeon.  Bis ich eine Sehnenscheidenentzündung bekam. Anschließend habe ich mir ein Keyboard gekauft.

 

 

Eine lustige Geschichte aus Bethel

 

Gilead baut um und hat Belegbetten in Mara. Dort werden die Augen-OPs gemacht. Zwei Zimmer hat es dort. Ich bin da extra hingegangen und die OP wird morgens gemacht. Mit einer Übernachtung hatte man mir wegen dem Parkinson empfohlen. Den anderen Morgen sollte ich um halb neun abgeholt werden. Und ich sitze da vorne im Foyer, im Haus ist 'ne gedrückte Stimmung, es sind Schwerkranke im Haus. Außer mir sitzen noch zwei junge Mädchen da und ein älterer Herr und unterhalten sich leise. Ich möchte mich aber auch unterhalten. Jetzt sitz ich da schon 'ne ganze Zeit und starr vor mir hin. Und da frag ich ganz vorsichtig, ganz leise das Mädchen: "Sprecht ihr überhaupt Deutsch oder was anderes oder kommt ihr aus England?" Als Antwort kommt ein Kichern. "Mir san aus Bayern." Von allen Seiten herzhaftes Gelächter. Jetzt lacht der ältere Herr auch. Und ich sage: "Und Euer Großvater zeigt Euch sicher einen Teil von Bethel?" Jetzt springt der ältere Mann auf. "Ich bin nicht der Großvater, ich bin der Vater!" Und dann hab ich erfahren, dass sie Krankenbesuch machten und im Quellental abgestiegen sind.