"Elefant", 51 Jahre

 

Ich ging in Arnsberg bis Klasse 10 zum Gymnasium, dann machte ich eine Lehre zur Paramentenstickerin in Paderborn. Danach bekam ich meine Tochter mit 19. Als alleinerziehende Mutter machte ich mein Abitur in Bielefeld und studierte Russisch, Spanisch und Afrikasoziologie. Zum Ende des Hauptstudiums bekam ich eine Psychose. Mehrere folgten und ich bin heute Frührentnerin.

 

 

Meine Texte:

 

Gemeinheit

 

Bielefeld ist eine unfreundliche Stadt dicken Menschen gegenüber. Es gibt viele Beleidigungen, viele verbale Beleidigungen bis hin zu Spucken vor die Füße. Selbst wenn ich im Bus Platz mache für eine Oma oder jemand anderen, setzt sich niemand neben mich. Das finde ich immer ganz diskriminierend. Über ein Erlebnis habe ich eine Geschichte geschrieben:

 

Ich wiege zwei Zentner und habe schon vierzig Kilo abgenommen: Um mein Gewicht zu halte, gehe ich jeden Tag eine Stunde spazieren.

Es war ein Novembertag, grau und ungemütlich. Ich ging meine Runde: Ziegelstraße, Petristraße, Am Stadtholz, Bleichstraße. Ich hatte eine schwarze Jeans und einen zu großen Schlangenmantel an. Auf der anderen Straßenseite ging eine Frau mit zwei Hunden spazieren. Als wir etwa auf gleicher Höhe waren rief sie: "Ja, morgen ziehe ich auch meinen Bademantel zum Spaziergang an!". Ich reagierte nicht, denn es muss ja nicht jeder Schlangendesign mögen. Als sie ein Stück weiter war rief sie: "Du fette Kuh!. Ein komisches Gefühl durchzog meinen Körper, ich war erschrocken, denn so eine Beleidigung hatte ich schon länger nicht mehr gehört.

Jetzt haben wir schon März und ich gehe immer noch mit mulmigem Gefühl die Straße entlang und hoffe, dass sie mir nicht wieder begegnet. Meinen Schlangen-

mantel hatte ich seitdem nicht mehr an, so tief saß der Schrecken.

 

 

 

Esel in Olderdissen und anderswo

 

Ich liebe es, in Olderdissen spazieren zu gehen. Die Esel sind besonders niedlich. Letztes Jahr gab es einen kleinen Esel, der mich an meine Geschichte gegen Kinderarmut erinnerte, die ich früher schrieb. Die Geschichte handelt von einem kleinen Esel, den ich in Marokko kennenlernte. Da Bielefeld auch eine Textilstadt ist, finde ich die Geschichte passend, da in Marokko zum Beispiel auch Stickereien und Handwebereien hergestellt werden.

 

 

Der kleine Esel hat Nachtschicht

 

Auf meiner Reise nach Marokko lernte ich in Sale, einem Stadtteil der Hauptstadt Rabat einen kleinen, einjährigen Esel kennen. Er zog einen schweren Karren mit Mülltonnen hinter sich her und hatte Mühe auf der harten, steinigen Straße der Stadt zu laufen. Wenn er nicht schnell genug ging, bekam er Schläge mit der Peitsche oder der Hund seines Besitzers biss ihn in die Hinterbeine und forderte ihn bellend auf. sich zu beeilen. Nur wenn neuer Müll aufgeladen wurde, durfte er einen Moment stehen bleiben und verschnaufen. Dann roch er die leckeren Obstabfälle in den Tonnen, da gab es Orangen-, Feigen-, und Melonenschalen, außerdem Brotabfälle und andere Leckereien, die er so gerne gegessen hätte. Aber seitdem der arme Müllarbeiter ihn eingefangen hatte, bekam er nur noch Heu und trockenen Hafer zu fressen und musste jede Nacht sehr hart dafür arbeiten.

Als die Abfälle so wunderbar dufteten, erinnerte er sich an seine Freunde in der Nähe eines nahegelegenen Dorfes, mit denen er als Baby-Esel gelebt hatte. Weil er dort niemandem gehörte, verbrachte er seine Zeit sorglos und frei, spielte mit seinen Geschwistern und Freunden auf den Feldern und fand immer genug frisches Futter. Manchmal besuchte er abends noch seinen Freund im Dorf, der bei einer reichen Bauernfamilie lebte und ständig die leckersten Obstabfälle in seiner Futterschüssel hatte, mehr als er auffuttern konnte. Dort genossen sie dann gemeinsam Melonen und Orangen, erzählten sich Geschichten und  lachten viel miteinander.

Aber eines Tages hatte er nicht aufgepasst und der Müllarbeiter hatte ihn auf dem Weg gefesselt und mit in die Stadt genommen. Von dem Tag an hatte er ein schweres Leben in der Stadt, durfte nicht mehr auf den weichen Wiesen und Feldern leben, laufen und spielen und konnte keinen reichen Freund mehr besuchen, der seine Melonenabfälle mit ihm teilte. Er war nicht mehr frei, die Sonne zu genießen, sich den Wind um die Ohren wehen zu lassen oder einfach nur so unter einem schattigen Baum zu faulenzen.

Seine Geschichte machte mich traurig und ich sah mich am nächsten Tag in der Stadt um. Überall gab es kleine Kinder, die für ein wenig einfaches Essen hart arbeiten mussten. Manche Mädchen waren Hausangestellte, Kindermädchen und Köchin zugleich und durften die Reste ihrer „Besitzer" essen, andere, meistens kleine Jungen arbeiteten als Straßenhändler oder in den winzigen Geschäften ihrer Eltern. Ich lernte einen fünfjährigen Jungen kennen, der den ganzen Tag lang in der staubigen Hitze der Stadt stehen musste und die Fäden hielt, mit denen sein Vater eines dieser wunderschönen Gewänder verzierte.
Wenn er Durst hatte oder zur Toilette musste, bekam er Ärger und wurde oft geschlagen. Ich traf einen kleinen Schusterjungen, der das harte Gummi von Autoreifen zu Schuhsohlen schnitt, seine Hände waren ganz kaputt von der schweren Arbeit, aber auch er durfte sich nicht beschweren, denn er musste für sein Leben hart kämpfen. Andere Kinder pflückten frühmorgens die stacheligen Kakteenfrüchte außerhalb der Stadt und schoben sie mit einem schweren Karren kilometerweit, um sie an der Straße zu verkaufen. Ein kleiner Junge wollte mir Streichhölzer verkaufen, als wir in einem Restaurant aßen, ich lud ihn ein, mit uns zu essen, ich verstand zwar die Sprache nicht, aber die Welle der Empörung der anderen
gepflegten und gut gekleideten Restaurantbesucher, die diesen kleinen Dreckspatz nicht in ihrer Nähe haben wollten schlug mir wie eine Ohrfeige entgegen. Er tat mir leid, wie er dort saß, hastig das Essen in sich hineinstopfte, und ängstlich wie gejagt um sich starrte.
Plötzlich kamen mehrere größere Jungen, schimpften ihn aus, weil er schließlich Streichhölzer verkaufen sollte und nicht essen, schlugen ihn und zerrten ihn mit sich.

Ich war feige, unsicher in einem mir fremden Land, dessen Sprache ich nicht verstand. Wie gelähmt saß ich da und dachte nur, „NEIN, SO ETWAS DARF ES NICHT GEBEN !"

Ich konnte nichts für ihn tun, genau so wenig wie ich für die Straßenkinder in anderen Ecken der Welt als Einzelperson tun kann. Das einzige, was ich immer wieder versuche, ist in meinem Umfeld ein Bewusstsein dafür zu erreichen, dass jeder Mensch gleich ist, egal
ob reich oder arm, schwarz oder weiß, egal in welchem Land und religiösem Umfeld er geboren wurde, wir alle sind ein Teil des Kosmos und der Kosmos meint es gut mit uns.

Schade, dass wir so wenig Gutes an uns heranlassen können, weil wir durch Sozialisation und  enttäuschende Begegnungen so hohe Mauern um uns bauen. Aber wir können sie auch

 

durch immer neue Begegnungen Stein für Stein abbauen, über die eigenen Mauern hinwegsehen und uns öffnen für das Gute, das der Kosmos uns durch manche Mitmenschen zeigt.

 

 

Nachbarn

 

Ich wurde durch Stress psychisch krank und bekam eine Psychose. Das ist eine üble Krankheit, in der man übernervös ist, den Tag- und Nachtrhythmus verliert und reizüberflutet ist. Bei manchen Menschen gibt es dazu noch Halluzinationen.

So rauchte ich einige Nächte durch, zündete Kerzen an und eines nachts trommelte ich morgens um 4 Uhr ein paar afrikanische Rhythmen.

ich bekam eine Kündigung, weil die Nachbarn Unterschriften gesammelt hatten, mit den Kerzen wäre es zu gefährlich und das Trommeln ergab nächtliche Ruhestörung. Davor die Nächte hatte ich viel im Ausland telefoniert und die Wohnung war sehr hellhörig.

Der Krisendienst kam und ich kam nach Gilead IV, in die Psychiatrische Klinik.

Gleichzeitig wurde ich obdachlos und musste meine Möbel einlagern lassen. Es war ein Schock. Die Wohnung, die ich dann fand, ist längst nicht mehr so schön wie die vorige. Trommeln tue ich jetzt eher selten und wenn, nur kurz und tagsüber.